Heute ein Gastbeitrag der Journalistin Helga Niestroj, 72, die in ihrem Text beleuchtet, was Corona in der DDR bedeutet hätte. Vielen Dank, Helga!
Von Helga Niestroj
Corona und die DDR
Wenn man mehr als die Hälfte seines Lebens in der DDR gelebt hat, kann man schon mal auf so eine Idee kommen. Nämlich zu fragen, wie es gewesen wäre, wenn das Coronavirus in der DDR ausgebrochen wäre. Absurd? Wäre nicht passiert, weil ja alle Grenzen kontrolliert wurden, nicht nur gen Westen, sondern auch gen Osten? Und sowieso nicht so viele Leute immerzu hin- und herfuhren wie heute?
Stimmt schon, aber rein konnte man in die DDR, das kleine Land wollte schließlich weltoffen sein. Das Virus hätten viele verschiedene DDR-Besucher einschleusen können. Zum Beispiel die westdeutschen Abiturklassen auf ihrer Klassenfahrt, oder die finnischen Lehrerinnen, die das DDR-Bildungssystem erkundeten. Oder französischen Gewerkschafter, oder vietnamesische Gastarbeiter, die das Virus aus Asien mitgebracht hätten.
Aber dann wäre schleunigst gehandelt worden. Es wäre ja ein Leichtes gewesen, die Kontaktpersonen auszumachen und zu isolieren, man hätte nicht lange gefackelt und gewartet, bis die Infektionsketten nicht mehr nachzuvollziehen gewesen wären. Man wusste schließlich, wo jeder arbeitet, mit wem er dort Kontakt hat, mit welchen Nachbarn er befreundet ist und wo sein Wochenendgrundstück liegt. Dazu brauchte es nicht einmal die Stasi, es war einfach bekannt. Man hatte keine Geheimnisse voreinander. Man musste nichts voreinander verbergen, damit der andere nicht neidisch wird. Höchstens die Westverwandtschaft, die blieb bei manchen Leuten unerwähnt.
Fraglich ist auch, ob überhaupt so viele Leute infiziert worden wären. Die Leute im Osten hatten mit Sicherheit ein besseres Immunsystem, das zeigt auch die niedrigere Zahl der Infizierten im Osten. Kein Wunder, denn die gesamte DDR war „durchgeimpft“, da gab es keine Impfverweigerer. Wer sich nicht gegen Grippe impfen lassen wollte, musste sich vorwerfen lassen, er wolle nicht am Aufbau des Sozialismus mitwirken. Und wer wollte sich so etwas nachsagen lassen?

Karte vom 19. 04. 2020, 00:00 Uhr
Falls es dann doch in der einen oder anderen Stadt zu einem größeren Ausbruch des Virus gekommen wäre, hätte es natürlich Probleme mit den Abstandsregeln gegeben. Die Schlangen vor den Geschäften waren ja teilweise schon ohne Corona sehr lang, mit dem entsprechenden Abstand hätte niemand mehr gewusst, wo er eigentlich ansteht, weil die Enden kilometerweit vom Geschäft entfernt gewesen wären.
Genau wie jetzt wären natürlich alle Farb- und Tapetengeschäfte während der Isolierungsphase geöffnet, ebenso die Baustoffversorgung, denn die DDR-Bürger nutzten solche Zwangspausen ebenso gern wie Westdeutsche zum Renovieren und Werkeln in Heim und Garten.
Natürlich hätte es in allen Bezirken die gleichen Regeln gegolten, nicht so wie hier und heute, wo jedes Bundesland macht, was es will – in Bezug auf Corona. Da wäre streng einheitlich vorgegangen worden, das steht sowieso fest.
Bei den Schulen bin ich mir nicht sicher, wie es gelaufen wäre. Vielleicht hätte man die großen Ferien vorverlegt. Oder – da es kein Homeoffice gab – hätte der Lehrer die Hausaufgaben gleich bei jedem Kind vorbeigebracht, denn zumindest die Grundschüler wohnten ja alle unweit der Schule. Nicht wie heute, wo die Kinder manchmal quer durch die ganze Stadt gefahren werden. So hätte der Lehrer auch gleich die erledigten Hausaufgaben einsammeln und zu Hause korrigieren können.
Fehlende Atemschutzmasken wären überhaupt kein Problem gewesen, denn die DDR-Bürger waren sowieso daran gewöhnt, sich schnell und unkompliziert mit fehlenden Artikeln zu behelfen, bzw. Ersatz herzustellen: „Nähst du mir drei Masken mit, ich ziehe dafür für dich schon mal Tomatenpflanzen vor“, hätte es dann geheißen. Ein ständiges Geben und Nehmen.
Aber mit dem Abstand, das wäre wirklich ziemlich schwierig geworden. Wie soll man ein Volk, das ein riesiges Austauschbedürfnis hat und gewohnt ist, Freud und Leid zu teilen, auf Abstand halten?