Nicaragua und COVID-19

2018 kamen neben den vielen Geflüchteten aus den „üblichen“ Herkunftsländern Syren, Afghanistan, Iran, Irak und Eritrea auch die ersten Geflüchteten aus Nicaragua in der Erstaufnahme am Fiersbarg an und ich begann, mich wieder etwas intensiver mit der Situation in dem mittelamerikanischen Land zu befassen. Es ist erschreckend, wie viele Menschen in der Zwischenzeit ihr Heimatland Nicaragua verlassen mussten.
 
Zur aktuellen Situation in Nicaragua dazu heute ein Text von Charles Baldy, der viele Jahre in Nicaragua gelebt und gearbeitet hat. Danke Charles.

Von Charles Baldy

Im Rest der Welt —————————————————— Im Nicaragua von Ortega/Murillo


Nicaragua und COVID-19, wie es der seit Jahren im Exil lebende nicaraguanische Karikaturist PxMolina sieht. (CONFIDENCIAL)

Vor einigen Tagen wurde in Nicaragua und weltweit von den im ausländischen Exil lebenden “Pinoleros” (Nicaraguaner_innen) und der dazugehörenden “Solidaritätsgemeinde” der Ereignisse vom April 2018 und danach gedacht. Es war kein Anlass zum Feiern – man trauerte und versuchte gemeinsam der Hoffnung Ausdruck zu geben, dass es doch noch zu einer friedlichen Lösung, einem Sieg der “Opposition”, einem Sieg von Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit kommen möge. Wobei dieses Ziel sicher nicht mit Daniel Ortega, Rosario Murillo und ihrem korrupten repressiven Staatsapparat und dem dazugehörenden Parteiclan erreicht werden kann. ABER WIE ?

Erinnern wir uns kurz: 18.04.2018 – Überraschende Kürzung der Altersversorgung – Proteste der betroffenen “Jubilados”, die unter den Augen der Polizei von fanatisierten Parteianhängern Ortegas verprügelt werden – eine Spirale der Gewalt mit Bränden, Strassenschlachten, Barrikaden, Einsatz von “Paramilitärs” mit “Kriegswaffen” führte zu widerrechtlichen Verhaftungen, Verschleppung, Folterung und Misshandlung und Ermordung (über 300 Tote bestätigt).

Der geballten dem Regime hörigen Polizeimacht standen unbewaffnete Jugendliche, Männer, Frauen, Mütter und Kinder als Opfer gegenüber. Die Zahl der Opfer dieser Repression ist trotz aller Anstrengungen nationaler und internationaler Menschenrechtsorganisationen bis heute nicht eindeutig gesichert.

Durch internationalen und nationalen Druck, besonders der Katholischen Kirche und der verschiedenen oppositionellen Gruppierungen bis hin zum Unternehmerverband COSEP, hatte das Regime widerwillig in einen “Nationalen Dialog” eingewilligt, der Anfang des Jahres nach mehreren erfolglosen Treffen von der Regierung eingestellt wurde.

Seitdem geht das “Ringen um eine Lösung des Konfliktes” weiter – politische Gefangene werden freigelassen – andere werden wieder gesetzeswidrig inhaftiert und misshandelt – die “Wirtschaft” nimmt weder fuer die eine noch fuer die andere Seite klar definiert Position ein (Gewinne könnten ja auf dem Spiel stehen). Die Zahl an Refugiados, die in alle Welt (vor allem Costa Rica) geflüchtet sind, liegt inzwischen weit über 100.000 – geflohen vor Drohungen, Verfolgung und Misshandlungen.

Und heute: Obwohl das Leben scheinbar normal weitergeht, ist nichts normal. Aus der Erfahrung von Gewalt, Repression, Denunziantentum, Fanatismus, staatlicher Willkür, Gleichschaltung aller staatlicher Institutionen, Unsicherheit und Angst vor Verlust von Arbeit und Leben ist eine widerwillige Anpassung allgegenwärtig geworden.

Weiterhin gibt es willkürliche Verhaftungen, polizeiliche Umstellung von Häusern bekannter Oppositioneller, Morde  (Hinrichtungen gleich) an Nicaraguaner_innen anderer politischer Meinung und an Mitgliedern indigener Gemeinden im Norden und in der Karibik, begangen von landraubenden Siedlern, ohne dass staatliche Stellen die “eingeborene”  Bevölkerung in irgendeiner Weise schützen bzw die Täter verfolgen und bestrafen.

Normales Leben: Das permanente “Sich Umschauen”, wo man gerade steht oder geht, auf der Strasse, im Restaurant, im Supermarkt, bei zufälligen Begegnungen auf der Strasse, ist zur Gewohnheit geworden – die Angst, dass jemand zuhören könnte ist gegenwärtig – manchen von uns aus unserer eigenen Geschichte bekannt.  

Die Zerrissenheit der nicaraguanischen Gesellschaft, der Zynismus der Regierung, der Fanatismus und die fortdauernde Gewaltbereitschaft vieler Anhänger der Regierungspartei sind überall spürbar und sichtbar. Eine generelle Einschätzung, wie viele Menschen der derzeitigen Regierung noch aus voller Überzeugung folgen, fällt schwer. Manche sprechen optimistisch von 20%, andere von weniger. Die Zahl derer, die “nicht ganz freiwillig” dem Diktat der Regierung folgen ist sicher wesentlich höher – viele haben Angst und befürchten, dass sie die kleinen und grossen “Vergünstigungen” (beneficios), wie Arbeitsplatz, Studien- oder Ausbildungsplatz, “Dienstwagen”, oder Haus oder Land verlieren könnten, die ihnen “el comandante” und seine Partei für ihre Stimme und Gefolgschaft gewährt hat. 

Deswegen und aus Angst vor Kündigung des Arbeitsplatzes und Verfolgung lassen sie sich in Busladungen zu jeder Aktion karren, zu der “el comandante” oder “la chayo” (Rosario Murillo) rufen – das ist im Nicaragua von heute nicht anders als in Cuba, Venezuela oder der ehemaligen DDR.

NICARAGUA IN ZEITEN VON COVID-19: So auch jetzt nach den ersten Meldungen von COVID-19 . Den ganzen März und April über gab es in den verschiedenen Städten Grossveranstaltungen (quasi “Herdenauftrieb”), um dem “Comandante” zu zeigen, dass sein Volk hinter ihm und seiner Partei steht. Gleichzeitig wurden vom Gesundheitsministerium (MINSA) überall “Stoss-Trupps” von Ärzten und Gesundheitsarbeiter_innen in die Siedlungen und Viertel und aufs Land geschickt (natürlich ohne ausreichende Prävention) um zu verkünden, dass es zwar so etwas wie “COVID-19” gibt, dass aber die “Abwehr” gut aufgestellt ist. Vizepräsidentin Rosario Murillo (RM) prangerte gleichzeitig Tag für Tag in ihrem mittäglichen landesweiten Fernsehaufenthalt COVID-19 als “Strafe Gottes” an (dabei natürlich von den Kirchen unterstützt).

Mitte März 2020 gab RM bekannt, dass das nicaraguanische Tourismusinstitut (Intur) die Gemeinden des Landes besucht und sich mit Tourismusunternehmern trifft, die sich auf die “Semana Santa” (so etwas wie das “Oktoberfest” Nicaraguas) vorbereiten sollten, um die aus “aller Welt” einströmenden Touristen gebührend zu “bewirten”. Doch die meisten Nicaraguaner_innen und die Touristen_innen waren schon weiter als RM – sie blieben aus Sorge vor COVID-19 zu Hause und die Strände blieben öde leer und in den Kassen der Hotels und Bars herrschte “Ebbe”.

Die Politik des Regimes blieb trotz aller Mahnungen der umgebenden Länder und internationaler Organisationen bis hin zur WHO, stur bei der “Botschaft” – alles im Griff – während alle anderen Länder ihre Grenzen schlossen und eine Fluggesellschaft nach der anderen ihre Flüge nach Managua einstellte, rief man in den Städten Nicaraguas immer wieder zu Märschen und Grossveranstaltungen auf: (“AMOR EN LOS TIEMPOS DE COVID-19 – Liebe in den Zeiten von COVID-19”).

Die staatlichen Schulen blieben offen – aber die Eltern waren überwiegend so vernünftig und schickten ihre Kinder nicht zur Schule. Die renommierten Schulen verlegten sich auf “Tele-Unterricht” wie in der “Ersten Welt” – so natürlich auch das “Colegio Aleman” (die deutsche Schule), wo schon seit langem die 23 Enkel_innen des Herrscherpaares unterrichtet werden. “Deutsche Bildung” hat halt immer noch einen guten Ruf !

Am 14. März 2020 rief die nicaraguanische Regierung zu einem massiven Marsch auf, um Unterstützung für Präsident Daniel Ortega zu zeigen (der schon über 4 Wochen nicht mehr “aufgetaucht” war). Der Marsch fand im Zusammenhang mit der einige Tage zuvor von der WHO ausgerufenen “COVID-19-Pandemie” statt. Zu diesem Zeitpunkt gab es keine offiziell gemeldeten Fälle in Nicaragua und die Regierung wurde von der Opposition kritisiert, weil sie keinen Plan für den Umgang mit der Pandemie hatte.

Am 17. März 2020 kündigte Rosario Murillo an, dass Kuba Ärzte und Arzneimittel nach Nicaragua schicken werde, um bei der Bekämpfung des Coronavirus zu helfen, obwohl es zu diesem Zeitpunkt im Land keine bestätigten Fälle gab. Murillo behauptete auch, Venezuela habe auch medizinische Versorgung geschickt.

Am 18. März kündigte RM Nicaraguas ersten bestätigten Fall an: einen 40-jährigen Mann, der kürzlich aus Panama nach Nicaragua zurückgekehrt war. Am 20. März wurde der zweite Fall bestätigt, ein aus Kolumbien stammender Nicaraguaner. Am 26. März 2020 bestätigte die Regierung den ersten Toten aufgrund des von Covid-19 in Nicaragua.

Am 22. April wurde bekannt, dass der 10. infizierte Patient ein Arzt im Krankenhaus Bertha Calderón (nationales Referenzkrankenhaus für Geburtshilfe und Gynäkologie) in der Hauptstadt war, der sich durch die Behandlung von Patienten im öffentlichen Gesundheitssystem infiziert hatte.

Am 23. April 2020 starb ein 58-jähriger Patient, ein Arbeiter vom internationalen Flughafen von Managua, der sich bei der Arbeit infiziert hatte (obwohl das Gesundheitsministerium behauptet, dass es keine lokale Übertragung gibt). Am selben Tag wurde ein elfter Fall vom Gesundheitsministerium (MINSA) bestätigt. Inzwischen hat es noch einen Arbeiter am Flughafen getroffen.

MINSA nutzt die Verwendung von zweideutigen Formulierungen aus, um die Mängel des Gesundheitssystems zu verbergen. Die offiziellen Berichte haben in der Bevölkerung allerlei Spott und Kritik hervorgerufen. Jeder der durch das Virus verursachten Todesfälle in Nicaragua wurde von MINSA nur wenige Stunden vor seinem Tod als stabil gemeldet, was in der Bevölkerung Wut und Misstrauen auslöste.

Die WHO und die IACHR (Interamerikanische Kommission für Menschenrechte ein Organ der Organisation Amerikanischer Staaten, OAS), haben das Vorgehen der Regierung angesichts der Krise ernsthaft in Frage gestellt, da sie trotz positiver Fälle nicht die ausdrückliche Entscheidung getroffen haben, die Grenzen für Ausländer zu schließen und damit die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen.

Trotz aller warnenden Stimmen werden weiterhin  Sportveranstaltungen in gewohnter Weise ohne Einschränkung durchgeführt, während sie in den anderen Ländern abgesagt wurden. All dies zeigt ein allgemeines Desinteresse des Regimes “Ortega” an der Betreuung seiner Bevölkerung. Als Mitte April Präsident Ortega wieder “auftauchte” und eine halbstündige “weltpolitische” Erklärung abgab, erwähnte er COVID-19 nur mit wenigen Worten nebenbei.

In der Realität ist die Regierung durch eine feindselige und repressive Haltung gegenüber ihren Bürgern gekennzeichnet, was nicht nur die Ereignisse vom 18. April 2018 gezeigt hatte (offizielles Verbot an Demonstrationen gegen die Regierung Beteiligte trotz schwerster Verletzungen in staatlichen Krankenhäusern zu behandeln, was damals  zur  Entlassung zahlreicher dem zuwider handelnder Ärtze_innen geführt hatte).

So auch jetzt, während die COVID-19-Krise ihren Lauf nahm, “auf Anweisung von OBEN” die Gesundheitsministerin C.D. entlassen wurde – nur wenige Stunden nachdem sie in einem oppositionellen Umfeld zugegeben hatte, dass die Regierung den Umgang mit dem Coronavirus falsch gehandhabt hat, wobei sie sich auf die Öffnung der Grenzen inmitten einer Pandemie bezog.

Am 23. April 2020 entließ die staatliche Universität UNAN-Managua den Direktor des CIES (nationales Zentrum für Forschung auf dem Gebiet der Gesundheit), Dr. M.A.O., zusammen mit drei weiteren Ärzten, weil sie öffentlich das Gesundheitsmanagement von MINSA angesichts der Pandemie kritisiert hatte. Die Entlassungen gehen weiter.

HAMBURG – LEON: Zum Schluss noch ein Blick auf “unsere” Solidarität mit Nicaragua, mit dem kleinen Land, das im vergangenen Jahrhundert durch sein tapferes Volk und seine Revolution die Bewunderung vieler von uns hatte. Wie verhalten wir uns jetzt? Wie kann und soll es weitergehen, wenn auch bei uns wieder eine gewisse (sicherlich andere) Normalität eingekehrt ist?

Klar ist ja wohl, dass die Menschen in Nicaragua ihr Problem mit ihrer Regierung und dem gesamten korrupten Staatsapparat selbst lösen müssen. Die vielberühmten “Besserwisser” aus aller Welt sind auch dieses Mal, wie bereits in den 80igern wenig gefragt – wohl aber konstruktive Hilfe.

Bis dahin müsste eigentlich klar sein, mit keinerlei Aktion das bestehende Regime zu unterstützen – auch wenn es dem “eigenen Ego” wohl tun würde und auch wenn das Regime öffentlichkeitswirksam mit ausländischer Hilfe (z.b. Taiwan) nach wie vor “Mega-Projekte” hochzieht, wie u.a. das vor wenigen Tagen eingeweihte grosse Wasserprojekt in der Region Waspam, RAAN.

Auch die Hilfe aus Hamburg müsste sich eigentlich in diesem Zwiespalt befinden in anbetracht der Bedürfnisse der Bevölkerung in unserer Partnerstadt Leon. Nur so lässt sich erklären, dass immer wieder Hilfssendungen mit öffentlichen Mittel finanziert in die Hände der Leoner Stadtverwaltung oder anderer staatlicher Institutionen vor Ort gehen.

WIE KANN MAN EIGENTLICH SO EINFACH DARÜBER HINWEGSEHEN, welch menschenverachtende Politik die herrschende Diktatorfamilie und der korrupte Staatsapparat samt Regierungspartei da betreiben: Daniel Ortega forderte kürzlich die am stärksten von der Covid-19 betroffenen Länder der Welt auf, von ihren Regierungen zu fordern die Bereitstellung der geplanten Ressourcen für Waffen zum Bau von Krankenhäusern und zum Kauf medizinischer Ausrüstung zu nutzen: „Dies ist die Zeit für Veränderungen in der Welt. Dies ist ein Zeichen von Gott, der uns sagt: “Sie verirren sich und geben Milliarden für Atombomben, für Atomwaffen aus. Militärbasen und Militärbündnissen aus”. – “Die beste Atomwaffe, die die Menschheit haben kann, ist die Gesundheit, ist  die Medizin, sind Krankenhäuser. Und dafür werden Ressourcen benötigt, und wir wissen sehr gut, wer sie hat und wofür sie sie verwenden.“ HÖRT, HÖRT !

Verwendete Literatur auf Anfrage

[s. a. Johns Hopkins University & Medicine]

2 Kommentare zu „Nicaragua und COVID-19

  1. Vielen Dank für den Bericht. In Managua gibt es offensichtlich eine deutsche Kolonie, die völlig abgeschottet in einem Getto lebt. Eine ehemalige Klassenkameradin von mir lebt dort mit ihrer Familie seit Jahrzehnten, Sie beschrieb mir neulich wie es ist, eingesperrt zu sein und das große Grundstück nicht verlassen zu können, die Enkel werden per Home-Schooling unterrichtet, gehen natürlich nicht auf die deutsche Schule wie die Kinder der Regierenden.

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